Der Preis der Kasseler Bürgerschaft

Das Glas der Vernunft

20.1.2022

„Ins Herz der Kolonialgeschichte vorgestoßen“

Bénédicte Savoy wird mit dem Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ 2022 geehrt.

In diesem Jahr wird zum 31. Mal der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ verliehen. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung geht an die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. „Wir werden den Preis einer Visionärin übergeben, die ins Herz der Kolonialgeschichte vorgestoßen ist und gleichzeitig Wege aufgezeigt hat, kulturelle Beziehungen auf Augenhöhe zu leben“, sagt Bernd Leifeld, Vorsitzender des Vorstandes der Gesellschaft der Freunde und Förderer dieses Preises. Bénédicte Savoy ist Leiterin des Fachgebiets Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin; das Time Magazine zählte sie zu den einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2021 weltweit. Vorstand und Kuratorium würdigen, dass sie wissenschaftliche Forschung und kulturpolitisches Handeln verbindet.

Bénédicte Savoy, die in Berlin lehrt, hatte dem Humboldt-Forum 2017 einen Mangel an Provenienzforschung, Transparenz und Autonomie vorgeworfen und war aus dem Expertenbeirat des Forums ausgetreten. Die von ihr ausgelöste öffentliche Diskussion über koloniale Raubkunst schlug hohe Wellen – und sie zeigt erste Wirkung: Frankreich gibt 26 Schätze an die Republik Benin zurück und die Bundesrepublik will in diesem Jahr Bronzen nach Nigeria restituieren. Das könne aber nur der Anfang sein, denn es gehe, so die Preisträgerin, bei der Restitutionsdebatte um eine „Haltung zur Gegenwart und zur Zukunft, nicht um eine Abrechnung mit der Vergangenheit“. Eine wichtige Voraussetzung dafür sei, dass Museen ihre „falsche Ehrlichkeit“ beenden und volle Transparenz schaffen.

Bénédicte Savoy habe gegen erhebliche Widerstände den Finger in die Wunde des oft verschwiegenen oder verharmlosten Kunstraubs in der Kolonialzeit gelegt und als Wissenschaftlerin eine Diskussion geprägt, die den Umgang der Museen, auch der in Deutschland, mit ihren Beständen aus der Kolonialzeit verändern werde, so Leifeld. Sie bringe damit ein überfälliges Umdenken im Umgang mit den eigenen kolonialen Geschichten maßgeblich voran. Geraubte Kulturgüter, die in einem Museum stehen, seien weit mehr als ein geraubtes Objekt. An und mit ihnen konnten sich Menschen zusammenfinden und weiterentwickeln. Durch koloniale Beutezüge wurde ihnen die Möglichkeit entzogen, ihre Kulturen zu leben. Bénédicte Savoy setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass diese Kulturen nicht nur anerkannt, sondern mit den Objekten sichtbar gemacht werden.

Vorstand und Kuratorium des Kasseler Bürgerpreises würdigen Bénédicte Savoy für ihren kulturpolitischen Aufbruch. Gleichzeitig sehen sie als Bürger:innen Kassels die Verpflichtung, die Restitution von Raubkunst aus Kasseler Museen aufmerksam zu begleiten. Sie erwarten gespannt, wie bei der documenta fifteen Kunstwerke in ihren kulturellen Kontexten zu erleben sein werden.
Der Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ wird am Sonntag, den 9. Oktober 2022 im Opernhaus des Staatstheaters Kassel an Bénédicte Savoy übergeben.

Die Preisträgerin

Bénédicte Savoy, 1972 in Paris geboren, ist die Leiterin des Fachgebiets Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin. 2016-2021 hatte sie zudem eine Professur am Collège de France in Paris für die Kulturgeschichte des künstlerischen Erbes in Europa vom 18. bis 20. Jahrhundert inne. Gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr erstellte sie 2018 im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron den Bericht „Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“.

Für ihre Forschung und ihre akademische Lehre erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter der 2016 verliehene Gottfried Wilhelm Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie in diversen wissenschaftlichen Beiräten und Gremien. 2021 erschien ihr Buch „Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage“, zudem die beiden Bände „Beute – Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe“ (mit Isabelle Dolezalek u. Robert Skwirblies) sowie „Beute - Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe“ (mit Merten Lagatz u. Philippa Sissis).

Das Glas der Vernunft

Der Bürgerpreis „Glas der Vernunft“ wurde 1990 von nordhessischen Bürgerinnen und Bürgern gestiftet. Anlass war die Öffnung der DDR-Grenze im November 1989. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wurde seither 30 mal an Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Naturschützer oder auch Menschenrechts- und Hilfsorganisationen vergeben, die sich mit ihrem Wirken den Idealen der Aufklärung – Vernunft, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Überwindung ideologischer Schranken –– in besonderer Weise verdient gemacht haben.

Symbolisiert wird der Preis durch eine von dem Kasseler Kunstprofessor und documenta-Künstler Karl Oskar Blase gestaltete Skulptur: Ein Glas-Prisma im Oktogon. Das Glas steht für Transparenz und Zerbrechlichkeit, das Prisma für Aufklärung durch wissenschaftliche Analyse, das Oktogon für Vollkommenheit.

Die 1991 gegründete Gesellschaft der Freunde und Förderer des Bürgerpreises hat inzwischen weit über 400 Mitglieder –  nicht nur aus Kassel und der Region, sondern aus nahezu allen Bundesländern sowie aus dem Ausland.  Durch ihre Beiträge und durch Spenden wird der Preis sowie die Veranstaltung zur Preisverleihung finanziert. Der Vorstand des Vereins sowie die Mitglieder des Kuratoriums arbeiten ehrenamtlich.

Erster Preisträger war 1991 der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der damit für seine Verdienste um die Öffnung der DDR-Grenze geehrt wurde. 2016 wurde Edward Snowden ausgezeichnet: Der ehemalige CIA-Mitarbeiter enthüllte die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten, vor allem der USA. Er konnte den Preis in Kassel nicht in Empfang nehmen, weil er international mit Haftbefehl gesucht wird. Sein „Glas der Vernunft“ steht noch im Kasseler Stadtmuseum zur Abholung bereit.

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