Foto: © Johannes Moths

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Natalie Amiri

Preisträgerin 2023

Begrüßung: Wolfgang Ischinger
Laudatio: Düzen Tekkal

In diesem Jahr wurde zum 32. Mal der Preis „Das Glas der Vernunft“ verliehen. Die mit 20.000 Euro dotierte Auszeichnung der Kasseler Bürgerschaft ging an die Korrespondentin und Moderatorin Natalie Amiri. „Wir werden den Preis einer unerschrockenen Journalistin übergeben, die durch ihre Berichterstattung den Heldinnen und Helden des Jahres 2022 eine Stimme gegeben hat: den Frauen und der Jugend im Iran“ sagte Wilfried Sommer, Vorsitzender des Vorstandes der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Preises, anlässlich der der Preisverleihung vorangegangenen Pressekonferenz. Natalie Amiri moderiert seit 2014 den ARD-Weltspiegel aus München und leitete ab 2015 für fünf Jahre das ARD-Büro in Teheran. Seit 2017 kommentiert sie für den BR auch regelmäßig aktuelle Themen in den Tagesthemen. 2020 wurde für sie nach einer Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Gefahr zu groß, Opfer einer politischen Geiselnahme zu werden. Sie musste die Leitung des Teheraner Fernsehstudios abgeben. Vorstand und Kuratorium würdigen, dass Natalie Amiri mit ihrer Berichterstattung in besonderer Weise Verantwortung für Menschen übernimmt, die für eine freie Gesellschaft und gegen Gewalt und Fanatismus kämpfen.

Als ARD-Büroleiterin hat Natalie Amiri zwischen 2015 und 2020 jede Sendeminute und jeden Bericht gegen staatliche Auflagen verteidigt. Sie war ständiger Kontrolle ausgesetzt, stellte sich gegen Erpressungsversuche des Geheimdienstes und musste damit rechnen, verhaftet zu werden. Fortlaufend suchte sie nach Wegen, anschaulich das festhalten zu können, was tatsächlich geschieht. „Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst Du nicht davon“, so die Preisträgerin. Für ihre Berichterstattung erhielt Natalie Amiri zahlreiche Auszeichnungen, u.a. wurde sie vom medium magazin in der Kategorie Politik zur Journalistin des Jahres 2021 gekürt. Auch als Bestsellerautorin ist sie eine Vermittlerin zwischen den Welten. Ihre Erfahrungen im Iran hat sie vielschichtig und empathisch geschildert und damit ein breites Interesse in der deutschen Gesellschaft geweckt.

In den letzten Monaten sei, so Sommer, aus den Reformbewegungen im Iran eine umfassende Protestbewegung geworden, die alle Volks- und Konfessionsgruppen der iranischen Gesellschaft einschließe. Natalie Amiris Berichterstattung und ihre Stellungnahmen hätten wesentlich dazu beigetragen, dass wir diesen Umbruch erfassen und begleiten können. Sie habe Menschen eine Stimme gegeben, die sonst keine haben, nicht zuletzt habe sie einem Schrei nach Freiheit Gehör verschafft, der förmlich aus den Menschen herausbreche. Durch die Art ihrer Beiträge übernehme Natalie Amiri Verantwortung dafür, dass dieser Schrei nicht verhallt, sondern menschlich berührt. Sie werde so gleichzeitig zur Wegbereiterin einer Außenpolitik, die derzeit als „feministische Außenpolitik“ diskutiert und erprobt wird.

Vorstand und Kuratorium des Kasseler Bürgerpreises würdigen Natalie Amiri für die humanistische Blickrichtung ihrer Berichterstattung. Im Fokus auf den Iran zeigt sie Konstellationen auf, durch die gesellschaftlicher Zusammenhalt gestiftet und Fanatismus bekämpft werden.

Der Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ wurde am Sonntag, den 8. Oktober 2023 im Opernhaus des Staatstheaters Kassel an Natalie Amiri übergeben.

Instagram: @glas_der_vernunft.de

Die Preisträgerin

Zwischen Perserteppichen und Bio-Gemüse wuchs Natalie Amiri, 1978 geboren, im gutbürgerlichen München auf. Die Tochter einer Deutschen und eines Iraners studierte Diplom-Orientalistik und Islamwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) führte sie an die Universitäten von Teheran und Damaskus. Seit 2011 vertritt sie die Korrespondenten in den ARD-Studios des BR, unter anderem in Istanbul, Athen und Rom. Seit 2014 moderiert sie den „ARD-Weltspiegel“ aus München sowie das BR-Europa-Magazin „Euroblick“.

Amiri, die Farsi, Dari und Arabisch spricht, reiste zuletzt im November 2021 nach Afghanistan. Ihr in den Aufbau Verlagen erschienenes Buch „Afghanistan – Unbesiegter Verlierer“ ist eine eindringliche Reportage aus der Zeit nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban, das ebenfalls bei Aufbau erschienene Buch „Zwischen den Welten. Von Macht und Ohnmacht im Iran“ wurde zum Spiegel-Bestseller.

Instagram: @natalie_amiri

Natalie Amiri

Natalie Amiri Foto: © Harry Soremski

Fotos der Preisverleihung

Natalie Amiri

Heidi Möller, Natalie Amiri, Wilfried Sommer, Barbara Ettinger-Brinckmann Foto: © Harry Soremski

Natalie Amiri

Jasmin Tabatabai Foto: © Harry Soremski

Natalie Amiri

Düzen Tekkal Foto: © Harry Soremski

Natalie Amiri

Wolfgang Ischinger Foto: © Harry Soremski

Pressespiegel und weiterführende Artikel

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Reden zur Preisverleihung

Die 32. Preisverleihung des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“ wurde von Jasmin Tabatabai und dem David Klein Quartett musikalisch eröffnet. Vielen Dank für die wunderbare Atmosphäre, die das Leben der Menschen im Iran näher an uns heranrückt und einen Rahmen bildet, um Natalie Amiri zu würdigen. – Gestatten Sie mir deshalb, dass ich Ihnen vor einer offiziellen Begrüßung mit einer kurzen Miniatur unsere Preisträgerin Natalie Amiri vorstelle.

Natalie Amiri realisierte als 19-Jährige während ihres Praktikums bei einer iranischen Zeitung, was es bedeutet, wenn zentrale Werte unseres demokratischen Staates nicht mehr selbstverständlich sind: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Frieden. Als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters ging sie für das Praktikum nach ihrer Schulzeit in München in die Islamische Republik Iran und erschrak, als die gewohnte Sicherheit, Ruhe und Verlässlichkeit wegbrachen. Sie traf auf einen Alltag, in dem es immer wieder unmöglich war, selbstbestimmt zu leben.

In dieser Situation lernt sie von Frauen. Von Frauen, die ihre Hoheit über ihre Selbstbestimmung wiedergewinnen, indem sie Rechte einfordern, indem sie mutig und mit unglaublicher Stärke für ihre Autonomie kämpfen. Sie erlebt einen Feminismus, der in großer Nähe zu dem kämpferischen Feminismus steht, für den wir 2019 Chimamanda Ngozi Adichie ausgezeichnet haben.

Natalie Amiri erfährt, welcher Einsatz für Frauen notwendig ist, um ohne Kopftuch den Wind in den Haaren zu spüren, um ohne Einschränkung zu lächeln und sich auszudrücken zu können, um zu tanzen, um ein eigenes intellektuelles Leben zu führen. Natalie Amiri spricht mit den Menschen, erlebt ihre Situation – und sie erlebt den Mut und die Stärke, welche diesen Menschen wieder ihre Selbstbestimmung zurückgeben.

Sie lässt sich davon anstecken, lernt immer ein bisschen mutiger zu sein, als sie es sich selbst vorher vorstellen konnte zu sein. Sie wird Journalistin und fängt in ihren Reportagen ein, was uns als Menschen Würde schenken kann. Ihre Berichterstattung 2 berührt etwas zutiefst Menschliches, sie ist von einer humanistischen Blickrichtung getragen.

Konkret heißt das: Als Leiterin des ARD-Büros in Teheran setzt sie sich ständiger Kontrolle aus, stellt sich gegen Erpressungsversuche des Geheimdienstes und muss damit rechnen, verhaftet zu werden. Fortlaufend sucht sie nach Wegen, anschaulich das festhalten zu können, was tatsächlich geschieht. „Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst Du nicht davon“, schreibt sie in ihrem Buch „Zwischen den Welten“.

Nach dem Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini vor gut einem Jahr entsteht im Iran eine umfassende Protestbewegung, die auf einen Systemwechsel zielt. Seit dieser Zeit kulminieren Natalie Amiris Berichterstattung, aber auch das Engagement von Jasmin Tabatabai, die wir gerade gehört haben, und von Düzen Tekkal, der heutigen Laudatorin.

Wir können durch Natalie Amiri erleben, wie wir alle Würde gewinnen, wenn wir uns von dem Mut und der Stärke zur Selbstbestimmung anstecken lassen. So verdanken wir den Frauen im Iran, so verdanken wir Natalie Amiri eine Stärkung unserer Demokratie, wir finden durch sie Perspektiven, die auch unsere Außenpolitik im Iran prägen können.

Herzlichen Dank, Natalie Amiri für Ihren wunderbaren Einsatz! Herzlich willkommen bei uns in Kassel!

Aus aktuellem Ansatz möchte ich noch einen Nachsatz einfügen. Vorgestern erreichte uns die Nachricht, dass der Friedensnobelpreis dieses Jahres an die inhaftierte iranische Frauenrechtlerin Narges Mohammadi geht. Diese Nachricht berührt uns sehr. Zugleich steht dadurch die heutige Preisverleihung in einem größeren Rahmen, können wir doch gerade durch die langjährige Berichterstattung Natalie Amiris das Gewicht einschätzen, welches der diesjährige Friedensnobelpreis hat.

“The more of us they lock up, the stronger we become” sagt die Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi. Wenn Natalie Amiri von der Stärke zur Selbstbestimmung spricht, welche iranische Frauen auszeichne, hat das heute einen ausgesprochen aktuellen Bezug.

Iran – Das war lange Zeit für viele in Deutschland und Europa wenig Thema.

Nach der so genannten Islamischen Revolution arrangiert sich die BRD mit dem neuenRegime. Die Geschäfte gehen weiter. Ein islamischer Staat, der auf Gesetzen alterschiitischer Rechtsauffassungen basiert. Gut, sagte man sich: Die IranerInnen wollen eben soleben. Den atomaren Bewaffnungsbestrebungen und den Drohgebärden in Richtung Israel begegnet man mit einer Mischung aus Besorgnis und Nicht-so-ganz-Ernstnehmen. Ein Atom-Deal soll die Gefahr einhegen.

Doch unter der Oberfläche brodelt es in Iran, es zeigen sich immer wieder Risse. Ein großerRiss, der erstmals weithin sichtbar wurde, war der Protest der so genannten „GrünenBewegung“ im Jahr 2009, als viele IranerInnen auf die Straße gingen, um gegen einegestohlene Wahl und für Reformen zu protestieren.

Der Protest wurde blutig niedergeschlagen. In den Folgejahren kommt es immer wieder zuAufständen – die ebenfalls niedergeschlagen werden, vom Westen weitgehend ignoriert.

Bis dann im Herbst 2022 ein Ereignis eintritt, das alle Welt zum Hinsehen zwingt: Der Mordan der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini durch die so genannte „Sittenpolizei“ wegen ihres zulässig getragenen Kopftuchs. Der Mord treibt viele Menschen auf die Straßen, allen voran dieFrauen, denn viele von ihnen haben eine Geschichte zu erzählen von den Drangsalierungen durch die Sittenpolizei.

Der Ruf nach Freiheit wird laut und kondensiert sich im Slogan „Jin – Jiyan – Azadi“, einSpruch, der mir zum ersten Mal im Krieg gegen den IS in Irak und in Syrien begegnete. Diekurdischen KämpferInnen führten ihn auf den Lippen. – Als sich die Proteste in Iran erheben,sind wir gerade mit unserer Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help in New York bei derGeneralversammlung der UN. Auch hier ist der Slogan hörbar: Lauthals rufen ihn dieIranerinnen vor dem UN-Gebäude, um gegen Machthaber Raisi zu protestieren.

Wir treffen auf die iranische Oppositionelle Masih Alinejad, die hier auf der Kundgebungspricht – seit Jahren eine furchtlose Kämpferin gegen die Geschlechter-Apartheid in Iran. Sieverabschiedet uns mit „Jin – Jiyan – Azadi“, mit gereckter Faust.

Der Iran war lange Zeit eine „Black Box“. Unabhängige Medienberichterstattung: Beinahe unmöglich. Das hat System: Es erlaubt den Machthabern selbst das Narrativ vorgeben zu können: Vom weltoffenen, friedlichen Iran, ja: vom Frieden bringenden Iran, der gegen die wahren Bösen in der Welt ankämpft.

Doch da ist eine Journalistin, die unbeirrt im vom Regime eng gesteckten Rahmen im Iranberichtet hat. Natalie Amiri. Bis ins Jahr 2020 war sie die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios.

Ein Posten, den sie räumen musste, weil es zu gefährlich für sie wurde: schließlich ist derGeheimdienst ihr auf den Fersen. Für eine iranisch-deutsche Doppelstaatlerin ist dasbesonders gefährlich. Denn gerade Doppelstaatler nimmt das Regime bevorzugt als Geisel,um von anderen Staaten Zugeständnisse zu erpressen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktionmusste sie nach Deutschland ausreisen.

Doch eines nimmt sie mit: Ihr Wissen. Natalie hat ein Netz aus Kontakten in Iran: Sie kenntdas Land und die Leute, weiß, mit wem man sprechen muss, um bestimmte Informationenzu bekommen. Denn ihre journalistische Karriere begann hier, im Iran im Jahr 1998 bei einerreform-orientieren Zeitung. Die 20-jährige kommt hier mit Kollegen in Kontakt, die damalsschon gegen das Regime anschreiben. Hier lernt sie ihr Handwerk, das ihr und uns allen nochnützlich sein wird.

Als die Jina-Revolution sich erhebt, ist sie die erste Ansprechpartnerin der Redaktionen,ordnet die Geschehnisse für alle anderen ein, gibt Telefonnummern und E-Mail-Adressenweiter. Sie zeigt die Tragweite dieser Bewegung auf, sie gibt die Richtung an und sagt klarund deutlich: „Dies ist eine Revolution! Hört den Frauen zu!“

Diese Rolle der Vermittlerin ist auch eine Form des Zurückgebens: Denn Natalie hat selbsterfahren, was es heißt, als Frau auf Teherans Straßen unterwegs zu sein. Die Angst schwingtimmer mit. Es ist ein Band zwischen Schwestern, zwischen Leidensgenossinnen, welches dererzwungene Weggang aus Iran eben auch stiftet. Und es ist dieser kollektive Geist derSchwesternschaft, der sich auch in „Jin – Jiyan – Azadi“ in „Frau – Leben – Freiheit“ausdrückt.

Natalie Amiri ist nicht nur Journalistin: Sie ist eine empathische Zuhörerin, eineanteilnehmende Beobachterin. Sie erstattet Bericht für Menschen, die genau dies nicht tunkönnen, ohne das mit ihrer Freiheit oder gar ihrem Leben zu bezahlen.

Ein bekanntes Zitat sagt, dass die Philosophen die Welt nur interpretiert haben, statt sie zuverändern. Seitdem wurde allzu oft versucht, die Welt zu verändern. Im 21. Jahrhundertmüssen wir alle wieder zu Philosophen werden: Wir müssen die Welt wieder interpretieren.

Dabei helfen uns Menschen wie Natalie Amiri: Menschen mit einem klaren moralischenKompass. Ein Glas der Vernunft, das potenziell jeder in sich trägt, durch das sich das Licht derWelt bricht, um klarer wieder reflektiert zu werden.

Und mit diesem – ihrem höchst eigenen Glas der Vernunft – schaut sie auf die Krisen derWelt. Sie bereist Afghanistan und berichtet von dem mutigen Kampf der Frauen dort gegenein weiteres islamistisches Regime, das der Taliban.

Erst kürzlich war sie in Irak und sie sagte mir einen Satz, der mich sehr berührt hat: „Düzen,was Du für die Frauen in Iran getan hast, das mache ich jetzt für die Jesidinnen in Irak.“ – Dieser Zusammenhalt, diese Solidarität ist der Schlüssel zur Freiheit – davon bin ich ganz festüberzeugt!

„Das Glas der Vernunft“ wird von den Bürgern der ehrenwerten Stadt Kassel vergeben, seitdem Fall der Mauer, seitdem der Eiserne Vorhang fiel. Die eben erwähnte Masih Alinejadkommt häufig auf den Eisernen Vorhang zu sprechen: Genau wie der Fall der Berliner Mauerden gesamten eisernen Vorhang zum Einsturz brachte, ist es mit dem Kopftuch: Wenn derKopftuchzwang in Iran fällt, fällt das ganze Regime.

Ein eiserner Vorhang zwischen Männern und Frauen, einer, der Menschen in Iran vonDemokratie, Religionsfreiheit, Säkularität und Rechtsstaatlichkeit trennt.

Natalie Amiri sorgt mit ihrer Arbeit dafür, dass die Stimmen jener, die sich daran gemachthaben, diese Mauer einzureißen, gehört werden. Und ich bin dankbar, dass dieInitiatorinnen des Preises Natalie und ihre Arbeit mit dem Preis ehren!

Ein Glas der Vernunft wird in diesem Jahr an eine unerschrockene, empathische, Frauvergeben, deren Tun von Menschlichkeit geprägt ist – und ohne die die Berichterstattung zuden Ereignissen in Iran nicht so differenziert gewesen wäre oder vielleicht sogar ganzverebbt wäre. Dafür danke auch ich Dir von Herzen, liebe Natalie!

Geschätzte Gäste, lieber Herr Prof. Dr. Sommer, verehrte Findungskommission,

ich stehe hier vor Ihnen, um den Bürgerpreis "Glas der Vernunft" entgegenzunehmen, und ich tue dies in tiefem Respekt vor der Geschichte und der Bedeutung dieses Preises.

All die Preisträger vor mir haben sich auf besondere Weise den Idealen der Auklärung verschrieben: der Vernunft, der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und der Überwindung ideologischer Schranken.

Dass in mich hier nun einreihen darf, erfüllt mich mit Dankbarkeit aber auch mit Demut.

Natarsin natarsin – ma hame baham hastim

Habt keine Angst – habt keine Angst – wir halten alle zusammen. Diesen Slogan riefen sich die Menschen auf Irans Straßen monatelang gegenseitig zu. Um sich Mut zu machen.

Im Iran ist der Gesellschaft etwas gelungen, was zum Alptraum des Regimes wurde- sie haben sich vereint- für ihr gemeinsames Ziel: Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechigkeit und sie wissen, dass sie dafür das Regime stürzen müssen.

Die Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die Perspekivlosigkeit innerhalb der Gesellschaft ist inzwischen so groß, dass die Menschen, die auf die Straße gehen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um das Regime zu stürzen. Sie haben keine Angst mehr.

Ich habe von vor allem von den iranischen Frauen gelernt, keine Angst mehr zu haben. Genauer ausgedrückt, mich nicht von meiner Angst leiten zu lassen. Entscheidungen zu treffen, die ich treffe, nicht die Angst, die auch ich kenne.

Und während dieses Prozesses merkte ich, dass ich immer ein bisschen mutiger sein kann, als ich denke, es in einer Situation sein zu können. Jedes Mal ein Stückchen mutiger.

Mut ist ein Wort, das in der Welt des Journalismus oft übersehen wird. Aber wir Journalisten, wir machen es uns zur Verantwortung, die Wahrheit zu suchen, sie ans Licht zu bringen und für diejenigen eine Stimme zu sein, die keine Stimme haben. Mut ist das Fundament, auf dem unsere Arbeit aufgebaut ist.

Doch wissen Sie, was meine größte Sorge ist? Dass es den meisten Menschen hier egal sein könnte, was ich erzähle, über den erbitterten Kampf der Frauen im Iran für Freiheit, über die Verzweiflung der Afghaninnen, dass wir sie allein gelassen haben.

Das Glas der Vernunft steht auch für Transparenz und Auklärung, für die Werte, die unsere Gesellschaft stärken und verbinden.

Ich habe als junges Mädchen das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Und ich habe mir damals gesagt, ich hätte nicht geschwiegen.

Dieses Versprechen war immer mein Kompass. Wie kann ich also schweigen? Zumal ich hier in einer Demokratie lebe, in der ich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Frieden genieße.

Nicht zu schweigen, bedeutet jedoch, seine Komfortzone zu verlassen. Sich Angriffen auszusetzen, verbalen und körperlichen. Jeder muss das für sich allein entscheiden, ob er das ertragen will.

Mut ist immer in Relation zu betrachten.

Wie mutig bin ich Natalie Amiri schon, wenn eine im Iran inhaftierte Menschenrechtsaktivistin, die 13 Mal vom Regime der Islamischen Republik festgenommen wurde, fünfmal verurteilt, zu insgesamt 31 Jahren Gefängnis und 154 Peitschenhieben, wenn diese Frau aus dem Gefängnis heraus zum Kampf für die Demokratie aufruft und zum Sturz des Regimes der Islamischen Republik?

Mir ein Interview aus dem Gefängnis gibt, obwohl sie weiß, welche Strafen ihr drohen, wenn das Regime erfährt, dass sie mit mir im Kontakt steht. Woher nimmt diese Frau ihren Mut, mir dann über Umwege ihre Antworten aus dem Gefängnis schmuggeln zu lassen?

Damit wir hier erfahren, wie unhaltbar die menschenunwürdigen Haftbedingungen in Irans Gefängnissen sind und was die Menschen im Iran anstreben: FREIHEIT.

Wer, wenn nicht Narges Mohammadi, wann? Wenn nicht jetzt, wann ist genau der richtige Zeitpunkt gewesen, sie für ihren Mut und ihre Willenskraft mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, den sie am Freitag erhalten hat.

Würdigungen und Auszeichnungen wie der Nobelpreis oder heute „Das Glas der Vernunft“ sind eine Botschaft der Unterstützung und Anerkennung für diejenigen, die die Wahrheit aufdecken. Aufmerksamkeit schützt vor denjenigen, die die Wahrheit am meisten fürchten: Totalitäre Regime.

Eigentlich würde ich am liebsten leise und zurückgezogen leben. Doch die Zustände auf der Welt lassen mich nicht ruhen. Und ich habe das Gefühl, dass ich manchmal noch lauter sein muss.

Oder ist zur Genüge bekannt, dass die Terrororganisation Hamas, die seit gestern einen der größten Angriffe auf Israel in den letzten Jahrzehnten ausführt, vor allem von der Islamischen Republik Iran finanziert wird? Ohne die finanzielle und militärische Unterstützung der Islamischen Republik wäre dieser Angriff nicht möglich.

Menschen im Iran wissen das seit langem: Na ghazeh, na lobnan….
Und ist bekannt, dass die Bundesrepublik Deutschland der wichtigste Handelspartner innerhalb der EU genau dieses Regimes im Iran ist?
Doch solange wir Journalisten recherchieren und aufdecken und es dann aber niemanden interessiert, ist das Ergebnis, dass wir lediglich zur Zielscheibe der Verbrecher werden.

Deshalb kommen Sie ins Spiel. Solange die Gesellschaft wachsam bleibt – und ich gebe zu, es ist schwer in dieser polykrisenhaften Zeit – doch solange Sie reagieren, entsetzt sind, Briefe an die Politik schreiben, sich politisch engagieren, solange steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich etwas ändert.

Es ist also ein Akt der Gemeinschaft, den Despoten nicht die Deutungshoheit, die Informationshoheit zu überlassen.

Dieser Preis ist für mich eine Erinnerung daran, dass unser Mut und unsere Entschlossenheit gebraucht wird.

Und ich möchte betonen, dass ich mich nicht so sehr darüber freue, dass ich als Person heute diesen Preis bekomme, sondern dass durch den heutigen Tag die Bedeutung meiner Mission und die vieler anderer Journalistinnen und Journalisten weltweit betont wird.

Ich werde mich weiterhin darum bemühen, den Schrei nach Freiheit derjenigen zu verstärken, die keine Stimme haben. Denn das ist für mich Journalismus. Und Mut ist dabei die stärkste Waffe, die wir alle haben.

Vielen Dank für diesen Preis!